Alecs Recher blickt zurück

AL-Fraktionschef Alecs Recher tritt im Februar nicht mehr zur Wiederwahl an. Im Interview mit Dayana Mordasini spricht er über sein coming-out, Geschlechts-identität und seine Arbeit und seine Erfolge bei Transgender Network Switzerland und Transgender Europe.

Dayana Mordasini: Vielen geht es beim Thema Transmenschen wahrscheinlich wie mir: Ende 80er Jahre wurde ich durch den Film Coco sensibilisiert, aber die Thematik ist nicht präsent.
Alecs Recher: Im Vergleich zu Coco habe ich eine Bilderbuch-Biographie, die sich deutlich von der Durchschnittsbiographie eines Transmenschen unterscheidet. Ich wuchs in einem Umfeld auf, das keine Stereotypen vermittelte und keine Erwartungen an mich als Mädchen stellte, mich auch entsprechend zu verhalten. Vor allem aber habe ich auf mein Coming-out fast ausschliesslich positive Reaktionen erhalten und relativ wenig Steine in den Weg gelegt bekommen.

Ist die Gesellschaft heute generell toleranter?
Stereotypen werden nach wie vor bedient, so z. B. bereits bei Kinderkleidern oder -spielsachen. Sicher wird Trans-Sein heute aber vermehrt und sachlicher thematisiert. Es gibt entsprechend auch mehr Eltern, die die Geschlechtsidentität ihres Kindes wahrnehmen und entsprechende Beratungsstellen aufsuchen oder an unserer Gesprächsgruppe für Angehörige teilnehmen. Die Geschlechtsidentität von Transkindern ist etwa ab dem Kindergarten klar, die Kleinen ernst zu nehmen ist daher nur richtig.

Wie war das bei dir?
Seit Anfangs Primarschule war mir klar, dass ich eine Geschlechtsangleichung machen will, und ich wusste auch, dass das möglich ist. Trotzdem habe ich damals, anfangs der 1980er-Jahre, nicht darüber gesprochen, denn ich fühlte, dass ich dadurch nichts zum Positiven verändern kann. Die Pubertät war auch für mich, wie für die meisten Transmenschen, der blanke Horror. Der Körper verändert sich und macht das Geschlecht nach aussen hin sichtbar – jedoch nicht das, das man ist. Heute gibt es die Möglichkeit, die Pubertät, und damit diese irreversiblen körperlichen Veränderungen, mit Hormonen (Pubertätsblocker) aufzuhalten.

Wofür hast du dich entschieden?
Meine Strategie war klar: ich arrangiere mich und verdränge das Thema der Geschlechtsangleichung. Ich habe diesen Schutzfaktor bis etwa 30 aufrechterhalten und mich im Leben als lesbische Frau eingefunden. Beim geschlechtsuntypischen Beruf Velokurier war ich auch mit kurzen Haaren und burschikosem Verhalten kein Aussenseiter. Gleichzeitig habe ich in meinem ersten Beruf als Heilpädagoge auch meine softeren Seiten einsetzen können und mich dabei wohl gefühlt. Meine Community ist ein kontinuierliches Element meiner Biographie. Erst in der Lesbenszene, dann habe ich neues ausprobiert als Drag-King (analog zu den Drag-Queens) und darüber auch die ersten Transmänner kennengelernt.

Wieso hast du deine Strategie geändert?
Einen Freund aus der Drag-King Szene hatte ich ein Jahr lang nicht gesehen. Er hatte in dieser Zeit mit der Hormonbehandlung begonnen und sah eindeutig männlich aus. Da wurde mir klar: Ich muss mich dem Thema Geschlechtsangleichung stellen, verdrängen geht nicht mehr länger. Ich war in der privilegierten Lage, dass ich bereits einen Beruf hatte und durch mein Alter und die Vernetzung einiges an Kompetenzen und Möglichkeiten, mich gut zu informieren. Das hat sicher geholfen, dass mein Weg so gut verlief. 2008 hatte ich mein öffentliches Coming-out. Öffentlich deshalb, weil ich bereits seit 2004 im Rat war.

War das eine positive Erfahrung?
Ich würde es wieder tun. Für das Bewusstsein in der Öffentlichkeit hat es sich gelohnt, es war gut, dass die Medien konfrontiert wurden mit einem Transmenschen, mit welchem sie bereits vorher als Politiker zu tun gehabt haben. Ich habe zeigen können, dass es nicht nur «negative» Geschichten gibt, ich habe die Medien dazu veranlassen können, sachlicher zu berichten, die Sprache anzupassen. Auch hier kann ich von einer Bilderbuch-Transition sprechen: an der Uni war man sehr aufgeschlossen, der Arbeitgeber, Familie und Freunde haben mich unterstützt, ebenso wie die AL. Ich habe durch das öffentliche Coming-out einen merklichen Teil meiner Privatsphäre aufgeben müssen, was besonders hart war, sich angesichts der positiven Errungenschaften aber gelohnt hat.

Was sind die wichtigsten Errungenschaften?
Nebst der Verbesserung der medialen Berichterstattung und öffentlichen Debatte sicher der Aufbau der Organisation Transgender Network Switzerland. Diese leistet heute wichtige politische und gesellschaftliche Arbeit, vernetzt und berät Transmenschen und alle andern, die Fragen zu dem Thema haben, und gibt unentgeltliche Rechtsberatung. Die Leitung der Organisation habe ich abgegeben, nachdem ich letztes Jahr in den Vorstand von Transgender Europe gewählt wurde, nun mache ich nur noch die Rechtsberatung, momentan etwa 100 Fälle pro Jahr.

Das Ziel der nächsten Jahre?
Grösster rechtlicher Handlungsbedarf in der Schweiz besteht in drei Punkten: Änderung von Name und amtlichem Geschlecht, Kostenübernahme der medizinischen Angleichung durch die Krankenkassen und Schutz vor Diskriminierung. Die  rechtliche Anerkennung des Geschlechts ist Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Denn ohne die Änderung werden Transmenschen jedes Mal, wenn sie sich ausweisen müssen, gezwungen, sich zu outen. Das verletzt ihre Privatsphäre. Nach heutiger Praxis ist eine Änderung von Name und amtlichem Geschlecht aber (fast) nur möglich, wenn man sich hat sterilisieren lassen. Dadurch werden Transmenschen gezwungen, die körperliche Integrität aufzugeben, um ihre Privatsphäre zu schützen. Dieses gegenseitige Ausspielen von zwei Grundrechten muss endlich aufhören.
Bei den Krankenkassen ist das Problem, dass sie völlig willkürlich und ohne Rücksicht auf den medizinischen Bedarf auch Pflichtleistungen verweigern.
In einer kleinen Studie konnten wir spezifisch in der Arbeitswelt einen diskriminierenden und schockierenden Ausschluss aufzeigen: Die Anzahl der arbeitslosen Transmenschen ist sechsmal höher als die der Durchschnittsbevölkerung – trotz eher höherer Ausbildung.

Wo findet die Diskriminierung sonst noch statt?
In der Schweiz sind es vor allem auch viele kleine Dinge im Alltag, die aufsummiert sehr belastend werden: Konnte man Namen und amtliches Geschlecht nicht ändern, so führt z. B. die Benutzung des öV-Abos zu Diskussionen, ein eingeschriebener Brief wird nicht ausgehändigt, man bekommt über das eigene Bankkonto keine Informationen, hat Probleme bei der Ausreise ins Ausland, Studierende verzichten auf Vergünstigungen, um sich nicht über die Legi outen zu müssen, uvm. Zu verbaler und körperlicher Gewalt haben wir in der Schweiz keine Daten, vernehmen aber immer wieder davon. In anderen Ländern werden Transmenschen gezielt ermordet: Das weltweite Trans Murder Monitoring zählte 1‘123 Morde innert fünf Jahren. Da steht auch die Schweiz in der Pflicht, Asyl zu gewähren.

Alecs Recher, vielen Dank.

Quelle: AL-Info November 2013

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